Erstellt: 16. Oktober 2013

Nun, da uns sommerliche Lüfte umschmeicheln, fühlt sich jede und jeder Zweite genötigt, jede Zweite und jedem Zweiten zu zeigen was er hat, oder nicht hat, oder zu haben meint. Das ist selten genau recht. Mal ist es zu viel. Und mal zu wenig. Immer mal wieder ist es garstig anzusehen. Neben Hüften, über denen speckige Wülste aus zu kurz geratenen Kleidungsstücken quellen, neben dicken Hintern und wabbeligen Oberschenkeln sind es mehr oder weniger seltsame Gehwerkzeuge, bei deren aufgezwungenem Anblick man über ihre Zweckmäßigkeit ins Grübeln kommt. Oder Ärmchen, deren voluminösester Teil die Ellenbogen sind. Und vor allem Bilder. Von den Schulter, Dekolletés und mehr oder weniger entwickelten Waden unserer Mitmenschen fauchen uns Drachen entgegen, grinsen Totenköpfe, spreizen sich Nackerte, rinnen Tränen, funkeln Sterne, blinzeln Raubtiere, drohen Waffen, kriechen Lurche, laden eigentümlichste Symbole zum Rätselraten ein. Im Prinzip sind alle außer mir tätowiert, was bisher für mich die Sache uninteressant machte.
Neulich fragte mich ein seltsam aussehender Herr, ob ich nicht jemanden wüßte, der auf besonders interessante Weise tätowiert sei. Ich war alarmiert. Die Story „Skin“ von Ronald Dahl fiel mir ein, in welcher jemand als vermeintlicher Besitzer des Hotels Bristol in Cannes einem armen Schlucker lebenslang Kost und Logis bietet, damit seine Gäste das kunstvolle Tattoo auf seinem Rücken als lebendes Gemälde betrachten können. Kurz darauf allerdings wird das Bild auf einer Gemäldeausstellung in Südamerika gezeigt und der Leser erfährt, daß es in Cannes kein Hotel Bristol gibt. Und nun stand jemand vor mir und schien sich in ähnlichem Metier zu versuchen. Es war zum Aus-der-Haut-fahren. Ich versuchte, in den Zügen des Mannes und an seinen Händen abzulesen, ob er imstande sein würde, jemandem die Haut vom Leibe zu schneiden, verzeichnete aber keine besondere Wahrnehmung. Den meisten Mördern sieht man nicht an, wozu sie fähig sind. Weder vorher noch hinterher. Also redete ich mich damit heraus, daß mir kein Zigarrenraucher mit einer Full-Body-Tätowierung bekannt ist, und dass ich meine Kundschaft normalerweise nur im angemessen bekleideten Zustand zu Gesicht bekomme. Letzteres allerdings war gelogen. Leider, leider. Denn es gibt sie, die Leute, welche die Innenstadt mit einem Strand verwechseln, barbusig, in Shorts und Flipflops nach Zigarren fragen. Doch was tut man nicht alles für Leben und Gesundheit seiner Mitmenschen; ich habe niemanden verraten. Der Mann verschwand. Und ich habe einen Entschluss gefaßt. Über Halbnackte mit Tätowierungen, die versuchen, in die Ästhetik unserer Klimaräume einzubrechen, werde ich künftig Buch führen. Ich weiß, eines Tages wird der Mann wieder auftauchen und mich fragen. Dann werde ich ihn fragen, was er mir bezahlt.